Skitour total – Der Höhepunkt des Skibergsteigens in den Alpen - Freiluftseele

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1971 – Skitour total
29.04.2021
Skitour total – Der Höhepunkt des Skibergsteigens in den Alpen
Vor 50 Jahren: Klaus Hoi, Robert Kittl, Hansjörg Farbmacher und Hans Mariacher meistern die Überquerung der Alpen auf Skiern.

Vom 21. März bis zum 29. April 1971 vollbringen vier österreichische Alpinisten eine schier unglaubliche Leistung. In 40 Tagen überqueren sie den kompletten Alpenbogen auf Skiern von Wien bis Nizza. Weder schlechtes Wetter noch widrige Verhältnisse halten sie davon ab, fast 2000 km und 165.000 Höhenmeter ohne Rasttag zu bewältigen. Eine beeindruckende skialpinistische Unternehmung, die auch heute noch zu den wohl bedeutendsten und anstrengendsten der langen Geschichte des Skibergsteigens gehört.
© Archiv Klaus Hoi
Es schneit ohne Unterbrechung. Mehr als ein Meter Neuschnee ist gefallen. Vier Gestalten, Skibergsteiger, sind bei diffusem Licht im Schneetreiben auszumachen, ringen in mühevoller Spurarbeit dem steilen Gelände Schritt um Schritt ab. Die scharfen Schneekristalle peitschen den Männern ins Gesicht, egal in welche Richtung sie auch schauen. Der erste versinkt bis zum Bauch im Schnee, kämpft sich vorwärts, um den nachfolgenden Begleitern in seiner Spur den Aufstieg zu bahnen, wenn auch die schmale Schneise augenblicklich wieder zugeweht wird. Der Sturm nimmt zu, raubt ihnen den Atem. Die Sicht wird immer schlechter, die Lawinengefahr ist erheblich, eine Orientierung scheint unmöglich. Umkehr, Aufgabe? Jetzt schon, wo sie erst wenige Etappen ihres großen Traumes geschafft haben – des Traumes, die Alpen in Längsrichtung komplett in einem Zug zu überschreiten? Wo sie erst wenige Tage unterwegs sind und hier in den Niederen Tauern die ganz großen Berge noch alle vor sich haben?
© Archiv Klaus Hoi
Die Gruppe hält an, drei der Alpinisten stellen sich schützend wie eine kleine Sturmmauer vor den kauernden vierten, damit er mit Karte, Kompass und Höhenmesser versuchen soll, den genauen Standort zu bestimmen. Klaus Hoi fällt die schwierige Aufgabe zu, eine Entscheidung zu treffen. Er, der Orientierungsexperte, der erfahrene Bergführer, übernimmt jetzt die Verantwortung für den richtigen Weg, für die Einschätzung, ob der hauchdünne Grat zwischen Risiko und Sicherheit schon überschritten sei. Klaus Hoi? Ja genau, der Klaus Hoi, der erfolgreiche Alpinist und Berufsbergführer aus Öblarn in der Steiermark. Der extreme Kletterer, dessen Erstbegehungen wegen ihrer Schwierigkeit und Eleganz hohes Ansehen genießen. Der Alleskönner am Berg, der für einen fairen, sportlichen Alpinismus eintritt und die anspruchsvollsten Anstiege von der Eiger-Nordwand bis zu den mauerglatten Dolomiten-Routen durchklettert hat.
Klaus Hoi ist bekannt für sein hohes Sicherheitsbewusstsein und weiß, dass sie mit ihrem Vorhaben bisweilen am Rande des Vertretbaren agieren. Aber er ist Teil eines großartigen Teams. Da ist der Bergführer Robert Kittl aus Bad Aussee, der eigentliche Vater des „Unternehmens Alpenüberschreitung“, der Planer und Organisator, dabei ist auch der konditionsstarke Tiroler Hansjörg Farbmacher, Olympia- und WM-Teilnehmer im Skilanglauf, dann Hans Mariacher, Heeresbergführer aus Virgen / Osttirol und nicht zuletzt Alois Schett, ebenfalls Heeresbergführer aus Osttirol, der die Nabelschnur zur Zivilisation bedeutet und die Versorgung der vier bergsteigenden Akteure aus den Tälern sicherstellt.
Eine absolute Klasse-Mannschaft. Physisch und mental topfit. Und so wird auch mit echtem Teamgeist entschieden: Die bislang zurückgelegten Etappen und das Aushalten der nunmehr widrigen Verhältnisse bestätigt die vier darin weiterzumachen.
© Archiv Klaus Hoi
Ein Entschluss, der ihnen eine Tour der Superlative bescheren wird und das wohl längste winterliche Alpinunternehmen, bei dem sie ohne Ruhetag an der Grenze der Leistungsfähigkeit den gesamten Alpenhauptkamm von den Wiener Hausbergen bis zu den Seealpen überschreiten sollten. Mit Glücksmomenten und Eindrücken, die sich tief in ihre Erinnerung eingravieren. Ob im Schneesturm, auf den bedeutendsten Gipfeln der Ost- und Westalpen oder in der warmen Frühlingssonne kurz vor der Cote d’Azur. „Trotz des Teamworks empfinde ich diese Überschreitung als meine persönliche Höchstleistung“, erinnert sich Klaus Hoi. „Aus meiner heutigen Lebenssituation gesehen, war es der Höhepunkt meiner Bergsteigerlaufbahn, auch wenn ich danach noch viele interessante Einzelleistungen erbracht habe. Viele davon konnte ich wiederholen. Allerdings, die Alpenüberschreitung hätte ich kein zweites Mal geschafft, sie war in dem von uns praktizierten Stil mental und körperlich nur einmal möglich.“
In der Tat war die Längsdurchquerung der Alpen auf Skiern, dazu noch in Rekordzeit, ein absolutes bergsteigerisches Highlight und eine logistische Meisterleistung – Verpflegung, Bekleidung, Ausrüstung, Routenwahl und Etappeneinteilung – alles war bis ins Kleinste geplant. Jeder, der schon einmal mit Skiern einen Berg bestiegen hat, im Bruchharsch abfahren musste, mit klammen Fingern an Steigfellen hantierte oder auch nur stundenlang in einer Loipe unterwegs war, bekommt eine zarte Ahnung davon, was es heißt, 40 Tage ohne Unterlass aufzusteigen, abzufahren, zu traversieren und zu spuren, bei jedem Wetter und jeder Schneeart und dabei im Schnitt täglich 2000 Höhenmeter im Aufstieg und 48 km Wegstrecke zu bewältigen. Beinahe unglaublich ist, dass sie es in nordischer Ausrüstung taten, also mit leichten Langlaufskiern, weichen Schuhen und einer normalen Rottefella-Bindung. Bei ihren Vorüberlegungen schon hatten sie auf Schnelligkeit gesetzt, hatten erkannt, dass sie mit diesen Skiern einfach wendiger waren und vor allem in kürzerer Zeit Horizontalentfernungen überbrücken konnten. Im Vorfeld wurde experimentiert, mal eben so die Haute Route in 26 Stunden, ja man muss fast sagen, „überflogen“!
© Archiv Klaus Hoi
Eine österreichische Skifirma entwickelte speziell für das Projekt einen Langlaufski aus Kunststoffen und Metallen, darüber hinaus ausgestattet mit Aluminiumkanten. Eine echte Neukonstruktion, ein Prototyp, der später in erfolgreicher Serie als Wanderski für das alpine Gelände gefertigt wurde, kannte man bis dahin doch weitestgehend nur skandinavische Langlaufbretter aus Holz.
Die besondere Motivation aber lag darin, diesen Höhepunkt der winterlichen Alpingeschichte in einer Technik zu erreichen, wie sie in den Ursprüngen des Skilaufs entwickelt wurde. Gleichsam eine Synthese herzustellen aus modernen Materialien und alten Schwungformen. So mussten die Protagonisten, allesamt brillante Skifahrer, zunächst umlernen. Aber schon bald begeisterten sie sich am Stemmen und Schussfahren wie zu Urgroßvaters Zeiten, vor allem aber am „Telemarken“! Eine ganz eigene Mischung kreierten sie, mixten Techniken des modernen, hochalpinen Skilaufs mit den Bewegungsmustern aus den Pioniertagen. So, wie es einst beim „Wunder des Schneeschuhs“ begann, so vollendeten Hoi, Kittl, Farbmacher und Mariacher die letzte große Herausforderung, das letzte Problem der skibergsteigerischen Erschließung der Alpen, mit den Skimethoden der Altvorderen, leichtfüßig dahingleitend und in eleganten Schwüngen die Hänge hinuntermäandrierend. Schwungtechniken, wie sie auch heute wieder begeistern. Wie überhaupt das Skitourengehen eine große Renaissance erfahren hat. Verständlich, denn seit jeher ist der Mensch fasziniert von der Stille und Pracht des winterlichen Hochgebirges, und jeder, der sich von der Bergwelt angezogen fühlt, in ihr wandert oder klettert, kann sich kaum dem Wunsch entziehen, auch im Winter auf dem unvergleichlichen Element Schnee den Gipfeln entgegenzustreben. Mit der Entdeckung und Verbreitung des Schneeschuhs, den Skiern, entstand eine solche Vielfalt, Erholung und Sport in den verschneiten Bergen zu  finden, dass für manche die Ski zur Erfüllung ihrer Träume wurden.
© Archiv Klaus Hoi
Die Essenz indes, der Skialpinismus, wird von Bergsteigern erhalten, die Winter für Winter ihre Spuren hinaufziehen auf bekannten und unbekannten Touren. Vor allem aber sind es die Extremen unter ihnen, die die Herausforderungen suchen, gleichwohl mit Skiern Grenzen des Möglichen zu berühren, wie sie es beim Klettern auch im Sommer tun. Es sind ihre Unternehmungen, die den Kern des alpinen Skilaufs für uns alle bewahren: auf Entdeckung zu gehen in der Einsamkeit tief verschneiter Flächen, Mulden und Kare, sich zu erfahren in außergewöhnlichen Situationen, den Rausch zu spüren, wenn man auf dem Schnee tanzend zu einem Teil dieser einzigartigen Urkraft des Winters wird.
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